Im Jahr 2021 wurden in Deutschland nach Informationen des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft insgesamt 1,86 Millionen Wirbeltiere und Kopffüßler für Forschungszwecke verwendet. Das sind im Vergleich zum Vorjahr zwar zwei Prozent weniger, jedoch immer noch sehr viele. Am meisten kommen in deutschen Laboren Mäuse, Fische und Ratten zum Einsatz. »Viele Forschungsaufgaben lassen sich derzeit nur mit Hilfe solcher Tierversuche lösen«, macht Dr. Wiebke Sihver aus der Abteilung Radionuklid-Theragnostika des HZDR deutlich. Deshalb sei es enorm wichtig, nach alternativen Möglichkeiten zu suchen. »Außerdem fehlen im Tiermodell oft wichtige Bezüge zum menschlichen Organismus.«
In ihrer Arbeit beschäftigen sich Wiebke Sihver und ihre HZDR-Kolleginnen und Kollegen mit der Entwicklung und Anwendung radiomarkierter Substanzen für die Krebsdiagnostik und insbesondere auch ‑therapie. Diese Radioliganden sind mit einem radioaktiven Nuklid (Radionuklid) ausgestattet und binden an ein Zielmolekül, im Fall von Krebs an bestimmte Zielstrukturen des Tumors. Damit wirkt das Radiopharmakon direkt am Tumor. Umgebendes gesundes Gewebe wird geschont. Bei der Entwicklung von Radiopharmaka müssen diese nach der In-vitro-Charakterisierung bisher auch in Tiermodellen wie Mäusen und Ratten getestet werden. Schon vor mehreren Jahren war Wiebke Sihver auf der Suche nach einem Ersatz für die vielen Tierversuche in der radiopharmazeutischen Forschung. Bei ihrer Recherche zu alternativen Systemen landete sie schnell beim Fraunhofer IWS. Dort forscht ein Team seit einigen Jahren an mikrophysiologischen Systemen, die mit kultivierten humanen Mini-Organoiden die Funktionsweise des menschlichen Organismus nachahmen – dank des Einsatzes menschlicher Zellen zum Beispiel näher am menschlichen Tumor, als es Tierversuche könnten. Es war der Ausgangspunkt für eine neue Idee.
Bereits seit über zehn Jahren beschäftigen sich die Forschenden am Fraunhofer IWS mit den Mini-Laboren. Mit diesen mikrophysiologischen Systemen im Format einer Tablettenschachtel lassen sich Organfunktionen oder auch Krankheitsprozesse mit Hilfe von Zellkulturen künstlich darstellen. Ventile und Kanäle simulieren das Gefäßsystem, eine kleine Pumpe den Herzschlag. Gefertigt werden die mikrophysiologischen Systeme aus übereinander geschichteten Kunststofffolien. In diese werden mittels Laser Blutbahnen und Kammern geschnitten. In speziellen Modulen legen die Anwender später Zellkulturen an, die bis zu einem Monat in den Mikrosystemen überleben können. In dem Miniatur-Labor zirkuliert derweil das Blut in Form von Nährmedium, das die Zellen mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt. Vor ein paar Jahren noch war in diesem Rahmen lediglich die Darstellung zweier Organe möglich. Heute sind es bereits vier, die sich gleichzeitig auf diesen neuartigen Multiorgan-Chips simulieren lassen.
Als sich das HZDR-Team an das Fraunhofer IWS wandte, erkannten die Expertinnen und Experten dort sehr schnell das Potenzial für eine neue Anwendung. »In der Entwicklung von Radiopharmaka kamen Multiorgan-Chips bis dato noch nicht zum Einsatz, da besteht also großer Bedarf«, erklärt Gruppenleiter Florian Schmieder, der die Lab-on-Chip-Forschung am Fraunhofer IWS schon seit vielen Jahren begleitet. Zusammen bewarben sich beide Institute erfolgreich um ein Förderprojekt des Bundesministeriums für Bildung und Forschung zu »Alternativmethoden zum Tierversuch«. Das läuft noch bis 2024. Erste aussichtsreiche Ergebnisse haben sie bereits erzielt.
Ziel der gemeinsamen Forschungsarbeit ist es, 3D-Tumormodelle auf einem Chip zu platzieren, der in der Folge die Testung von Radiopharmaka vereinfacht und günstiger macht. Erste Herausforderung war es deshalb, aus einer zweidimensionalen Zellkultur ein dreidimensionales Zellaggregat herzustellen – ein Sphäroid, das Tumorgewebe imitieren kann. »Damit können wir die Charaktereigenschaften des Mikro-Tumors in unserem System integrieren«, erklärt Entwicklungsingenieur Stephan Behrens vom Fraunhofer IWS. Perspektivisch soll diese Darstellung auf dem Chip immer detailreicher werden, beispielsweise durch den Einsatz patientenspezifischer Zellen oder zur Bestimmung neu entdeckter, charakteristischer Proteine an verschiedenen Tumorzelltypen, die sich radiopharmakologisch detektieren lassen.
Die ersten Tests von Wiebke Sihver und ihrem Team mit den Multiorgan-Chips zeigten bereits positive Ergebnisse. Zum Einsatz kamen dabei zunächst bekannte Substanzen, deren Eigenschaften sich auf dem Chip gut beobachten lassen. »Wir sahen, dass die Bindung an den Tumorsphäroiden bereits funktioniert«, schildert sie. Geplant ist, auf den Chips auch ein Nierenmodell und ein Leberorganoid darzustellen. Insbesondere die Nieren gelten als dosislimitierend und spielen in der radiopharmazeutischen Forschung somit eine wichtige Rolle. »Das heißt umgangssprachlich ausgedrückt: Wenn der Radioligand festhängt, kann das zu Schädigungen in der Niere, aber auch in den Leberzellen führen«, erläutert die Wissenschaftlerin. Die Tests solcher Stoffe mittels Zellkulturen auf einem Chip durchzuführen, sei deshalb eine vielversprechende Alternative. Verlaufen die Versuche im Projekt weiterhin positiv, sollen sich später auch unbekannte Radioliganden in den Systemen prüfen lassen. »Das spart eine große Anzahl an Tierversuchen«, sagt Sihver. Denn auch wenn sich mit ihrer Forschung Tierversuche noch nicht komplett vermeiden lassen, arbeiten die Forschenden daran, ihre Zahl zu reduzieren.
Florian Schmieder sieht durch die Neuentwicklung künftig viele Vorteile für die Patientinnen und Patienten. »Wir könnten patientenspezifische Zellen auf einen Chip bringen und so simulieren, wie sich eine Krebserkrankung entwickelt.« Individuelle Therapien wären auf diesem Weg maßgeschneidert möglich. »Der Krebs bildet außerdem tumorspezifische Antigene, die in Tiermodellen so nicht darstellbar sind.« Auf den Chips soll auch das funktionieren.
Die enge Zusammenarbeit der beiden Forschungsinstitute stellt ein eindrucksvolles Beispiel für den Mehrwert der Wissenschaftsallianz DRESDEN-concept dar, in der sich 36 Partner vereint haben, um den Forschungsstandort Dresden zu fördern und Synergien in Forschung und Lehre sowie Infrastruktur und Verwaltung zu schaffen sowie zu nutzen.